Marie Pittroff

Essay über die Künstlerin. Von Hermann Stauffer
 

Kosmologie der Idolatrie

Marie Pittroffs Kunst

I. Das Spiel mit der Ikone

Andy Warhols vielzitiertes Diktum, seine Kunst bestünde einzig und alleine darin, daß er nur noch die Oberfläche der Dinge abbilde und daß sich genau darin seine Kunst erschöpfe, traf den nervus rerum der amerikanischen Kultur, wie sie von ihren Kritikern seit den 50er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts empfunden wurde: die eines selbstgenügsamen Materialismus, der sein Ziel in Produktion und Distribution der Ware als solcher sah, ohne daß die Inhalte oder der Warencharakter selbst hinterfragt worden wären. Auch die Art und Weise der Produktion von Kunst, ihr Zustandekommen, wurde durch Warhol mit einem solchermaßen geäußerten Selbstverständnis negiert. Was zählte, war der Effekt, der mit Kunst zu erreichen ist.

Am besten ließ sich - und dies ist die kunsthistorisch gewichtige Entscheidung des Amerikaners - ein solcher Effekt dadurch erzielen, daß er die allbekannten und allgegenwärtigen Ikonen seiner Zeit nahm und ihre bildnerische Vergegenwärtigung zur Kunst erklärte. Diese Entscheidung war weder neu, noch war sie extrem - Duchamps Konzeption der Readymades etwa war wesentlich radikaler und zuvor schon entwickelt. Sie waren vielmehr der spielerische Kommentar eines im und mit der totalen Verdinglichung aufgewachsenen Künstlers, eines Menschen, dessen Alltagskultur sich weithin aus der Idolisierung von Personen (Verehrung von Schauspielern) und Dingen (Markenbewußtsein) herleitete. Warhols Leben war "pop", bevor er es dazu deklarierte.

Die bildnerische Substanz, die Objekte der Darstellung, war massenhaft verfügbar, es galt lediglich auszuwählen und nach Attraktivität, nach "appeal" zu entscheiden, welches Motiv den größten Eindruck hinterlassen würde, und dies betraf die Wirkung sowohl auf den Künstler selbst als dem selbsterklärten Repräsentanten einer anonymen Massenkultur wie auch auf den Betrachter seiner Bilder, der sich in gleicher Weise definieren ließ. Mit dem einzigen Unterschied, daß dieser nicht einmal dazu gezwungen war, einen eigenen Kunstgeschmack durch den Auswahl- und damit zugleich den Produktionsprozeß heranzubilden, weil die ihm angebotene ausschließlich rezeptive Kunstdefinition eine derartige Mühe für alle Beteiligten obsolet machte. Dem subjektivistischen "Geschmack" als Entscheidungsinstanz wurde dadurch nachgeholfen, daß er sich in schreienden Farben präsentierte. Insofern konnte Warhol sich zu Recht und ohne Übertreibung als der "amerikanischste aller Künstler" bezeichnen lassen.

Eineinhalb Jahrzehnte nach Warhols Tod ist seine Kunst - nicht eben sein Kunstverständnis - so weit in die Alltagskultur der ganzen Menschheit eingedrungen wie die amerikanische Kultur in toto. Seine "Marilyns" dürften ebenso wie seine "Campbell-Dosen" inzwischen auch den letzten Winkel der Erde erreicht haben, freilich ohne daß die an ihre Entstehung geknüpfte nur aus einer autochthonen Kulturisation heraus mögliche ironische Distanz überall vergegenwärtigt würde - dies hätte eine vollständige Negation ethnischer Unterschiede zur Voraussetzung und die ebenso totale Negation der globalen Prädominanz des amerikanischen Lebensentwurfs zur Folge. Im Gegenteil:

 

Wenn sie rezipiert werden, sind die Ikonen Warhols zu Idolen mutiert. Ausdruck dessen ist die bemerkenswerte Tatsache, daß eben jene "Marilyns" und eben jene "Campbells" bekannter und leichter identifizierbar sind als die Schauspielerin und die Suppendosen selbst; kaum jemand außerhalb der USA wird versucht sein, diese im Supermarkt eigens zu suchen, und kaum jemand aus der globalen Fernsehnation sieht sich heute mit Genuß die biederen Monroe-Streifen an oder findet Gefallen an einem Schönheitsideal von vorgestern.

Die Ikonisierung der populären Images ist längst zum Selbstläufer geworden und hat sich in ihr Gegenteil verkehrt. Heutzutage schert sich kein Mensch mehr - außer den professionell damit Beschäftigten - darum, ob etwas Kunst ist oder nicht. Kunst ist nicht mehr das Vergnügen einer kleinen Schar Auserwählter, Kunst wird in ebensolcher Weise und mit eben jenem Effekt, den Warhol hellsichtig prognostizierte, überall massenweise produziert und konsumiert - im Internet als "free tour". Es gibt permanent Neues zu entdecken, nichts bleibt. Warhols berühmte "15 Minuten" sind als Zeitrahmen zur Konsumtion von Kunst und damit zugleich zum Erwerb künstlerischen Ruhmes viel zu hoch kalkuliert. Die Vermittlungsspanne liegt exakt bei 1:1. Die Ikone wird als solche sofort erkannt und im selben Moment schon wieder vergessen. Die zeitgenössische Kunst ist am Boden angelangt. Kunst hat, dies ist der paradoxe Effekt der Warholschen Konzeption, in dem Augenblick, in dem sie ihren eigenen Wert negiert, sich selbst nicht obsolet gemacht, sondern sie ist als Teil der Alltagskultur dauerhaft präsent, ebenso wertvoll oder wertlos wie die Gesamtheit aller materiellen Güter, die jenseits der Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen produziert werden. Kunst im amerikanischsten aller Sinne ist kein Wert mehr an sich. Der schöpferische Akt, und sei es nur das von Warhol zum eigentlichen künstlerischen Prozeß deklarierte kennerische Auswählen der idolträchtigen Ikone, ist als Massenphänomen so weit in den Hintergrund getreten, daß er als solcher zwar erkannt, jedoch nicht mehr gewürdigt wird. Kennzeichnend dafür ist die Tatsache, daß es, nach einem kurzen Aufflackern von nichtssagender Provokation und sich in der Selbstschöpfung zugleich erledigenden Künstleridolatrien in den 90er Jahren, heutzutage offensichtlich nurmehr eine riesige Masse von Künstlern gibt, von denen es keiner zu schaffen scheint, aus der Namenlosigkeit, die geradezu Kennzeichen von Kunst geworden ist, herauszutreten.

 

 

II. Das Spiel mit dem Spiel

Die hoffnungslose Situation der Kunst unserer Zeit mit Warhol als ihrem Propheten findet sich aktueller denn je widergespiegelt und kommentiert in den Bildern Marie Pittroffs. Dies freilich in kennzeichnend "europäischer" Weise. In Pitroffs Bildern ist es nicht wie bei den amerikanischen Pop-Künstlern und ihren Epigonen der Warencharakter der Ikone, der zur Disposition steht, sondern, in einem weiteren Schritt, die Ikonisierung des Warencharakters der Ikone. In - wiederum - ironischer Distanz zum letzten Propheten der Kunst, zum Propheten der Materie gewordenen Oberfläche, Warhol, nimmt sie dessen Ikonographie auf, um darin sich und ihre Welt ins dritte Jahrtausend zu spiegeln: Der von Warhol geschaffene Kunstkosmos wird zum Objekt der Begierde, die europäische Künstlerin wird von der durch ihre amerikanische Präfiguration prädizierten Pop-Konsumentin zur selbst die Pop-Konsumtion ikonisierenden Kunstproduzentin. In einem bewußten schöpferischen Akt nimmt Marie Pitroff die ihr zur Verfügung stehenden Ikonen der Ikonenkultur auf, um ihren Ikonencharakter vermittels der Ikonisierung zu enthüllen. Sie ist insofern ganz europäische Künstlerin, als sie einen wertlos gewordenen Materialismus in den geschichtlichen Rahmen zurückholt.

Daß Marie Pitroff als Motive nun keineswegs der eigenen Kreativität entsprungene zur Vorlage nimmt, daß sie ihre Motive nicht auf dem Weg ad fontes, sondern immer als vermittelte findet, hat nicht nur seinen Grund in der Warhol-Tradition, in der sie sich als Künstlerin sieht, sondern gleichermaßen darin, daß diese Kunsttradition für sie immer eine vermittelte ist: Als heutige Europäerin ist sie geprägt von der Rezeption der alles dominierenden amerikanischen Alltagskultur,

 
zu der eben jene vermittelnde Pop-Kunst genauso gehört wie das, was sie zum Thema gemacht hat, die Oberfläche. Insofern ist es als bewußter Akt zu verstehen, diese Kultur als vermittelte nicht nur zu begreifen, sondern sich ihrer zu bedienen und sie auch so darzustellen. Pitroffs Bilder sind der Ausdruck einer spielerischen Rezeption des bereits als ikonisierte Ware vorliegenden Kunstprodukts amerikanischer Provenienz.

Das Warholsche Spiel mit der Ikone wird zum Pitroffschen Spiel mit dem Idol. Indem Idolatrie als Negativfolge der Ikonisierung aufgrund einer Verabsolutierung ihres Warencharakters post festum erkannt und zum Thema gemacht wird, holt Marie Pitroff Warhol in unsere Zeit. Spielerische Idolatrie als gebrochene, auch gefahrvolle Ikonisierung, die die allgemeine Orientierungslosigkeit und Namenlosigkeit als Spätfolge der "15 Minuten" hervorhebt und sie zugleich als lustvolle Selbstbeschäftigung wie als Warnung inszeniert, segmentiert den Warholschen Kosmos, nimmt sich eines seiner Produkte - und zwar nicht im direkten Zugriff, sondern wiederum vermittelt - und penetriert es bis zum bitteren Ende.

 
 

Lou Reed als Erwachsener und längst Entwachsener, als Geschaffener und Überlebender des Warhol-Imperiums, Lou Reed ist die "Marilyn" Marie Pitroffs. Nie durch persönlichen Kontakt mit ihm kontaminiert, sondern ausschließlich vermittelt durch Fotografien und Berichte anderer über ihn, bildet sein Image die Ikone, das Schlüsselsegment für die europäische Um- und Weiterdeutung eines nurmehr historischen, des letzten tragfähigen amerikanischen Kunstdiskurses. Pitroffs Ikonographie geht über Warhol hinaus, indem sie sowohl die vermittelte Historizität eines Kunstprodukts abbildet - wir sehen "Lou Reed" in der seriellen Folge altern - als auch indem sie aus eben jener von anderen medial "dokumentierten" Geschichtlichkeit die gewachsene Entfernung zum Objekt stets präsent hält. Nie ist "Lou Reed" als quasi-authentisches menschliches Wesen imaginiert, sondern immer gebrochen durch die quasi-dokumentarische Stilisierung im Schwarzweißgemälde. Dadurch stellt die Künstlerin die europäisch-ironische Distanz zu einer Kultur her, die das einstmals heilige Antlitz des Menschen fortwährend brutal zur Schau stellt, fetischisiert und zur bloßen Ware degradiert.

Die mehrfach - rezeptiv und produktiv - sich vollziehende Distanzierung Marie Pitroffs von einem ihr letztlich unzugänglichen Kunstdiskurs läßt die Frage nach der Substanz aufkommen, die sich hinter der Ikone verbirgt, der Substanz sowohl des ikonisierten Objekts selbst als auch seiner Darstellung. Insofern die de facto vorliegende globale Idolatrie unserer Zeit durch diese Fragestellung zum Thema wird, holt Marie Pittroff die authentische amerikanische Oberflächenstruktur in den ihr gebotenen fortwährenden Prozeß der Einordnung des eigenen Schaffens in den universalen kunsthistorischen Zusammenhang zurück und gibt zugleich eine Stellungnahme ab über den gegenwärtigen Zustand nicht nur ihrer selbst, sondern, als Mit-Leidende und aus diesem Leiden Schöpfende, der am künstlich perpetuierten Amerikanismus nur leidend partizipierenden Menschheit insgesamt.

III. Das Spiel geht weiter

In Marie Pitroffs Bildern gerinnt die affektische Anteilnahme am globalen Rezeptionsprozeß amerikanischer Kulturisation aus europäischer Perspektive. Das Potential der künstlerischen Leidensfähigkeit und ihrer Sublimierung ist in der zweidimensionalen und statischen, das pathosauslösende Objekt auf Leinwand bannenden Darstellung freilich noch lange nicht ausgeschöpft. Ebenso wie der authentisch amerikanische Kommentar eines Andy Warhol seinen gültigen Ausdruck in der Konzeption der multimedialen Kunst fand - als deren partizipierender Teil wiederum "Lou Reed" agierte - begreift die aus dieser Sichtweise sich herleitende und sie zeitgemäß spiegelnde Perspektivierung Pittroffs die Nutzung weiterer Darstellungsmedien ein. Jenseits mittlerweile längst selbst Historie gewordener Vorstellungen von "Installation" oder "Performance" sind dies die Produktionsmittel unserer Zeit, die eine strategisch adäquate Umsetzung der vorhandenen Ikonographie in den aktuellen Rezeptionshorizont nicht nur erlauben, sondern sie geradezu gebieten.

Alte Images werden durch Techniken des sogenannten "Morphing" zu neuem Leben erweckt und, durch die abschließende Eliminierung der ikonographischen Ausgangsmaterialien, zu gänzlich neuen, nie dagewesenen und doch, da aus dem Rückgriff auf originäre Quellen hervorgegangen, in ihrer eigenen Synthetisierung zu authentischen Kunstprodukten. Banale "Objekte" der Vergangenheit werden dadurch ironisiert, daß ihr Idolatriecharakter vermittels ihrer erneuten Zurschaustellung unter gänzlich veränderten Rezeptionserwartungen dekuvriert und konterkariert wird. Ihrer Sinnlichkeit und Sinnhaftigkeit durch multimediale Überfrachtung letztlich enthobene Gesamtkunstwerke wie die legendären Rockshows der "Velvet Underground" werden jenseits aller Nostalgie im wiederholten medialen Vollzug, ihrer Segmentierung und neuerlichen Synthetisierung auf ihr künstlerisches Substrat hinterfragt. Alle - von Warhol durchweg negierten, dadurch gleichwohl selbst wieder programmatisch gewordenen - historisch dokumentierbaren Bedeutungsebenen der autochthonen Popkultur werden als Strukturelemente eines Diskurses begriffen, der sich durch den von ihm in Gang gesetzten und noch immer gültigen globalen Rezeptionsprozeß tatsächlich als tragfähig erwiesen hat. Die Frage ist lediglich die: Um was ging es eigentlich? Antworten unter:

Amerika - die andere Nummer

© Dr. Phil. Hermann Stauffer. Im Mai 2002. mail
hstauffe@uni-osnabrueck.de

Galerie Peter Herrmann.